Identitaetsentwicklung in einer krisenhaften Spaetmoderne: Aus der Sicht der Sozialpsychologie stellt sich die Frage, ob und wie in Gesellschaften 'ohne Projekt', ohne uebergreifende, sinnstiftende 'Metaerzaehlungen', die Individuen noch kohaerente Selbste bilden und bewahren koenne. Denn die einzelnen sehen sich bestaendigen Umbauforderungen ihrer Identitaet ausgesetzt. Diskutiert werden zunaechst neuere psychologische Theorien der Identitaetsentwicklung als 'Kommentare zu einer krisenhaften Spaetmoderne' (J.E. Marcia, C. Camilleri und Glynis Breakwell). Sie zeugen alle von einer wachsenden Skepsis gegenueber dem normativen Anspruch einer 'gelingenden Identitaet'. Ein weiterer Schritt stellt die Frage nach der Kohaerenz des Erlebens. Ausgangspunkt ist die Multiple Persoenlichkeitsstoerung als Extremfall psychischer Dissoziation. Gefragt wird nach den normativen Einlagerungen in das Konzept der Kohaerenz. Als theoretisches Modell wird schliesslich das Konzept der narrativen Identitaet vorgeschlagen: Identitaet wird erzaehlend konstruiert. Die einzelnen arbeiten sich ab an dem Repertoire an Selbst-Geschichten, das in einer Gesellschaft moeglich ist. Das Erzaehlen ist ein sozialer Austauschprozess, denn jede Selbst-Narration muss von anderen bestaetigt werden. Ein wichtiger Fokus von solchen Selbst-Erzaehlungen ist die zukunftsorientierte Formulierung von Identitaetsprojekten. Denn Identitaetsbildung als dynamisches Geschehen findet nicht bloss situativ statt, sondern wesentlich auch prospektiv. Auf der Basis dieses theoretischen Modells werden in einer empirischen Studie Identitaetsprojekte von jungen Erwachsenen analysiert. Die gefundenen Typen koennen gelesen werden als Kommentare zur Identitaetsentwicklung in einer krisenhaften Spaetmoderne. Der Autor, Dr. Wolfgang Kraus, ist derzeit wissenschaftlicher Angestellter an der Universitaet Muenchen, Sonderforschungsbereich 536, Projekt B2: Individualisierung und posttraditionale Ligaturen - die soziale Figuration der reflexiven Moderne.